essays Bild

Werke

Kumbh Mela

Der Bauer weiß, daß er die Reise auf sich nehmen muß. Wie sein Vater, sein Großvater. Er verliert nicht viele Gedanken über das „wie“ der Reise – ein Pilger ist immer versorgt. Er ist noch nie zuvor weit aus seinem Dorf herausgekommen, noch nie über die nahe Marktstadt hinaus. Die Reise wird größer sein als seine gesamte Lebenserfahrung. Einer der Grundbesitzer stellt einen Traktor zur Verfügung, der den Anhänger zieht, auf dem sich die vielen Familien zusammendrängen. Der Traktor hält nur für die dringendsten menschlichen Bedürfnisse. Schlaf gehört nicht dazu. In der Nacht fällt das Scheinwerferlicht aus. Von dem Bus, der sie fast gerammt hätte, hört der Bauer nur die kreischende Hupe. Kurz vor der Ankunft am nächsten Tag melden sich wieder die Stimmen jener zu Wort, die diese Reise schon einmal unternommen haben. Und doch kann keine ihrer Geschichten den Bauer auf den Anblick vorbereiten, der sich unter ihm darbietet, als der Traktor über die Ganges-Brücke tuckert. So weit ihn der Dunst blicken läßt, erstrecken sich neben dem Fluß Zelte, hölzerne Bauten, Masten; schnurstracks gerade Straßen, auf denen alles in Bewegung ist. Der Bauer denkt, sie seien angekommen, aber es dauert noch eine Stunde – barsche Polizisten, eine Prozession von Sadhus, im Sand eingesunkene Jeeps, ein Elefant, der sich Zeit nimmt, weil viele Münzen viele Segnungen einfordern – bis sie das Lager erreichen: offene Zelte, eigentlich eher Planen über einige Pfosten gespannt. Zur Kälte hin offen. Und schon besetzt von Bündeln und Lagerfeuern. Es dauert manch ein Flehen und Drängen, bis alle einen Platz für ihren Beutel aus Jute oder Plastik gefunden haben. Die Frauen beginnen zu kochen; Teig geknetet, ausgerollt und zu Fladen gebraten. Der Pujari ihres Dorftempels verkündet, daß sie am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang das heilige Bad nehmen werden. Später, als sich ihre Aufregung gelegt hat, wird dem Bauern klamm.

Am anderen Flußufer singt eine Gruppe Sadhus in einem kleinen Tempel. Ein alter Mann spielt Harmonium, sein Gesicht ein aus Ikonen vertrautes Sinnbild für Weisheit und Mitgefühl. Zu seiner Linken trommelt der junge Trotzkij. Neben ihm sitzt ein Schelm mit der Figur eines dem Wein zugeneigten Benediktinermönchs. Die anderen Asketen schlagen Schellen und rufen im Chor die Namen des göttlichen Ehepaares Sita-Ram an. Über ein Mikrofon gelangt der Gesang über die Türschwelle, einladend wie der Duft von Hausgemachtem. Mit geschlossenen Augen spürt man, wie sich die Sadhus durch ihren Gesang in ein Reich einfinden, in dem sie gerne verweilen. Der uralte Gesang klingt so frisch, als sei er den Männern gerade eben überreicht worden. Mit offenen Augen erkennt man hingegen allseits Brüchigkeit. Ziegeln sind provisorisch aufeinandergesetzt, Löcher anstelle von Fenstern in die Wand geschlagen. Plastikplanen dienen als Raumteiler, ein zu kleines Stück Wellblech als Dach. Im Vorraum des Tempels hat sich eine zahnlose Großmutter mit ihrer Tochter ein notdürftiges Heim eingerichtet.
Irgendwann endet auch Trance. Der Schelm wird zu einem Solo überzeugt. Sein oranges Gewand streift er sich als weiblichen Schleier über den Kopf. Er dreht sich zu seinem koketten Lied in immer schnelleren Kreisen, zieht Grimassen, taucht in einen Witz unter, fällt in eine Rap-Einlage. Die anderen Sadhus lachen mit ihm. Die Frauen erheben sich als Mäzenen und überreichen ihm nach einem Wirbel mit der Hand zehn Rupien, die er in einer Wölbung seines Schals entgegennimmt. Nach dieser Einlage reiht er sich wieder in die nächste Hymne ein.

Ein frühes Aufwachen. Zur Anrufung der 108 Gottesnamen, zu einer Wolke von Gesängen, zu Pfeifenlauten, als sei die Nacht von blechernen Grillen erfüllt. Noch vor Sonnenaufgang rauscht es, wie von einem donnernden Wasserfall. Aus dem Rauschen löst sich eine Stimme, ein Instrument. Scheppernd, denn nur die bessergestellten Camps verfügen über Bose-Geräte, die anderen Lautsprecher verzehren gnadenlos jede Äußerung. Der Tag liegt auf einem Nagelbrett von Geräuschen unterlegt: Gesänge, Ausrufe, Durchsagen. Anschwellende Anrufungen. Jedes Gebet wird von unzähligen anderen umlagert. Und besonders durchdringend wird die Mantra des Friedens, der Ruhe und Stille, ‘Shanti Om’, geplärrt.

Zwischen dem 9. Januar und dem 21. Februar dieses Jahres war Kumbhnagar die dichtbesiedelste Freifläche der Welt. Ein Zelt-Manhattan nahe der Stadt Allahabad („Stadt Gottes“), errichtet im Flußbett des Ganges; dort, wo nach der Regenzeit drei Meter tiefes Wasser fließt. Mit 80 Millionen Mark hat die Regierung des Bundesstaates Uppar Pradesh die graue Öde am Zusammenfluß (Sangam) der Flüsse Ganges und Jamuna sowie des mythischen Stroms Saraswati in 12 Areale unterteilt und 450 Kilometer Strom-, 145 Kilometer Wasserleitungen, 140 Kilometer Straßen, 20.000 Toiletten, 5000 Telefonanschlüsse sowie 15 Pontonbrücken angelegt. Die Organisation ist beeindruckend: Abfall wird von 6000 Müllmännern aufgesammelt; die mit Sandblechen stabilisierten Straßen werden über Nacht abgespritzt; Tausende von Freiwilligen sorgen für Ordnung, wenn auch manchmal mit rabiaten Mitteln.

Jai Prakash, der verantwortliche Wasserbauingenieur, verbringt den Sonnenuntergang gerne am Sangam und verwickelt Fotografen in Gespräche über ihre neueste Ausrüstung. „Wir arbeiten seit zwei Monaten intensiv. Mit 100.000 Sandsäcken haben wir das Ufer auf einer Länge von vier Kilometern gegen Erosion geschützt. Wir haben die Wassermenge des Ganges reguliert, damit keiner ertrinkt. Wir haben die Abwässer in vorläufige Reservoirs umgeleitet, wo sie bis zum Ende des Festes zwischengelagert werden.“ Der vom vielen mitgeschwemmten Sand braune Ganges fließt um die Landzunge in den breiteren, trägeren und tieferen Jamuna. „Wie ein erfreuter Liebhaber, der zur Begrüßung nach vorne stürzt“. Jai Prakash fällt es schwer, an diesem Ort prosaisch zu bleiben. „Eigentlich ist es eine Sünde, Ganga einen Fluß oder Wasser zu nennen. Sie ist unsere Mutter.“
Selbst in einer an heiligen Orten und Daten überreichen Kultur, ragt das Kumbh Mela-Fest des Jahres 2001 heraus. Hier und jetzt fließt mehr zusammen als „nur“ drei heiligen Flüsse. Weil einst beim Kampf zwischen Göttern und Dämonen um den Nektar der Unsterblichkeit an vier Orten einige Tropfen aus dem Topf (Kumbh) verschüttet wurden, wechseln sich seit Jahrhunderten vier Städte alle drei Jahre mit der Organisierung des Kumbh-Festes ab. In Allahabad findet traditionell alle zwölf Jahre das größte dieser Feste statt. Und zu dieser kulminierten Segnung gesellt sich heuer die seit 144 Jahren nicht mehr so günstige Konstellation der Sterne. Deswegen ist die Kraft der Reinigung, die von einem Bad am Zusammenfluß ausgeht, stärker als alle Sünden.

Für einen Sadhu – auch Heiliger, Baba, Brahmachari, Mahant, Mahatma, Muni, Rishikumar oder Sannyasi genannt – hält die Kumbh Mela eine überragende soziale Bedeutung inne. Viele Sadhus verlassen nur zu diesem Anlaß ihre unstete Einsamkeit und begeben sich unter Ihresgleichen und Normalsterblichen. Für sie ist das Fest ein Treffpunkt, ein Marktplatz, ein Vergnügungsurlaub, eine Politbühne – eine zwischenzeitliche Abkehr von der Einkehr. Im Gegensatz zu christlichen Mönchen verharren sie selten in einem Kloster (ashram). Denn die spirituelle Reise, die sie angetreten haben, erfordert ihrem Selbstverständnis nach Bewegung. Die orthodoxen Sadhus bleiben nie länger als drei Tage an einem Ort, getreu dem Motto: So wie das Wasser ständig fließt, sollte der Sadhu immer in Bewegung sein. Denn zu den Lastern, von denen sie sich zu befreien suchen, gehört neben dem Besitzwillen, der Gier, der Lust, der Unreinheit, der Aggression, des Neides und der Überheblichkeit die Seßhaftigkeit, die alle anderen Übel potentiell in sich birgt.
Die meist in saffranfarbenen Tüchern gekleideten Asketen haben die erste Lebenshälfte quasi übersprungen, denn sie werden in der Regel schon in jungen Jahren zu Sannyasi – eigentlich die vierte Stufe im prototypischen Leben eines Hindus, nach den vorhergehenden Aufgaben als Schüler, Familienvater und Ältester. Dieser Sprung ergibt sich logisch aus der Gewichtung der indischen Philosophie, die sich vor allem mit der zweiten Hälfte des Lebens auseinandersetzt. Denn nur durch die in dieser Phase möglichen Lebensführung kann man die angestrebte Erlösung (moksha) erlangen.
Die Initiation zum Sadhu erfolgt stets bei der Kumbh Mela. Die nackten Kandidaten, denen drei Tagen zuvor der Kopf bis auf ein kleines Haarbüschel am Hinterkopf glattrasiert wurde, hocken am Ufer des Ganges, in der Ordnung eines Regiments auf Parade. Hinter ihnen stolzieren einige festlich bekleidete Zenturione herum, die alle Unbefugte vertrieben haben. Der Zeremonienmeister watet mit seinem langen silbernen Stock, seinem Brokatgewand in rot und seinem triumphalen Turban vor den Nackten im Wasser und schüttelt jedem eine Handfläche Flußwasser über den Schädel. Die Aspiranten halten beide Arme ausgestreckt. Dann stürzen sie sich in Gruppen ins Wasser und planschen herum. Nach dem Bad laufen sie herum, springen, hüpfen, wie beschwingte Kinder. Schließlich wird ihnen ein weißer Streifen überreicht, den sie sich als Lendenschurz umbinden. Ihre abgeworfenen Unterhosen treiben mit der Strömung gen Calcutta.
Wer weiß, wie viele von den nun Initiierten spirituelle Motive hegen, wie viele vor der dörflichen Armut in die soziale Sicherheit der gläubigen Spenden flüchten, wie viele – wie oft gemunkelt – sich vor der Polizei verstecken oder als Geistesgestörte zu heiligen Narren aufsteigen. In den Camps der Akharas, den paramilitärisch organisierten Bünden der Sadhus (13 an der Zahl), finden sich Fanatiker und Akademiker, Quacksalber und Verklärte. Sie sitzen vor ihren Zelten neben dem heiligen Feuer – das nie erlöschen darf –, und lassen sich von den Gläubigen mit Blicken, Berührungen und Spenden verehren. Sie geben Rat, vertreiben mit einem Pfauenfederwedel böse Geister; sie drücken eine Prise Vibhuti, meist Asche von verbranntem Kuhdung, auf die zu segnende Stirn. Manche tragen nichts außer Gebetsketten und deswegen den Namen Naga Sadhu (‘naga’ teilt mit ‘nackt’ einen gemeinsamen indogermanischen Ursprung). Die Akharas wurden vor etwa 1000 Jahren gegründet, in unruhigen Zeiten inneren Zerfalls und moslemischer Bedrohung. Seitdem bieten sie Unterweisung in Shastra (Waffen) und Shaastra (religiöse Texte); auch spielen sie eine wichtige Rolle bei der Organisation der Mela.
Die kriegerischen Attribute – in der Mitte der Camps ist eine erstaunliche Vielfalt an Lanzen, Dreizacken, Speeren und anderen Stichwaffen in den Boden gerammt – repräsentieren ihre auf Geheimwissen basierende Macht. Magisch aufgeladene Mantras werden nach jahrelanger Unterweisung von Lehrer (guru) auf Schüler übertragen. Großen Seelen (mahatmas) werden die Fähigkeiten eines Medizinmanns, eines Zauberers oder Schamanen zugesprochen. Besondere Reverenz erfahren jene, die Schwüre der Selbstkasteiung aufgenommen haben. Ein junger Sadhu aus Varanasi steht seit drei Jahren Tag und Nacht auf einem Bein. Neun Jahre stehen ihm noch bevor. Ein älterer Glaubensbruder hat es zu medialer Berühmtheit gebracht, weil er seit mehr als zwei Jahrzehnten einen inzwischen verkümmerten Arm hochhält. Die Darbietung von Selbstbeherrschung trägt manchmal bizarre Früchte. Ein Naga Sadhu zeigt auf einem eingerahmten Foto, wie er mit seinem Penis 25 kg Ziegensteine stemmt. Sein Werbefoto zum Anlocken von Spendern. Alle paar Minuten wischt er den Staub von dem Glas und postiert das Bild wieder allseits sichtbar. Regelmäßig stopft ihm sein Assistent eine weitere Pfeife Hasch, das Elixier, das bei allen halluzinatorischen Kräften auch den Hunger in Zaum hält.

Neben dem Aufsuchen der Sadhus schätzen die einfachen Pilger, Kalpvasis genannt, vor allem den täglichen Besuch einer der unzähligen Aufführungen von religiösen Lehrstücken. Beim Katha präsentiert und interpretiert ein Swami, ein besonders weiser Gottesmann, die Bhagvadgita, die Upanishaden oder Puranas. Beim Bhakta werden religiösen Lieder von mystischen Dichtern des Mittelalters wie Kabir, Tulsidas oder Mirabai vorgetragen. Bei den Lilas führen Familientruppen die allseits bekannten Geschichten aus den Epen bzw. Götterlegenden auf. Da die Gläubigen in Indien noch nicht von der Rastlosigkeit und Ungeduld der westlichen Moderne infiziert sind, dauern die Aufführungen meist 15 Tage. Jedes Camp verfügt über eine entsprechende Bühne, die sich allmählich füllt, während die Musiker einige Weihelieder singen und die Akteure sich noch schminken.
Der Familienvater, zugleich Regisseur und Impresario, bindet seinem Sohn, der die Rolle von Krishna verkörpern wird, kunstvoll den Turban. Dessen Brüder werden, in Grün kostümiert, die in Krishna verliebten Milchmädchen spielen, Metaphern für die Liebe der Menschen zu Gott sowie der grenzenlosen, polygamen Erwiderung dieser Liebe. Ein jüngerer Bruder trägt einen gemalten Rubin auf der Stirn und grüne Augenlider. Mit jedem Pinselstrich und Handgriff verwandeln sich die Kinder in Götter, die Jungs in Frauen. Das Schminken und Anziehen ist ein ritueller Akt. Die Augen der Kleinen richten sich allmählich in der neuen Identität ein.
Nach einem zeremoniellen Gebet tanzen die aus natürlichen Gründen ungleich großen Geschwister einen Reigen, deklamieren abwechselnd vor einem auf der Vorderbühne aufgestellten Mikrophon und nehmen immer wieder Platz, während der Sänger und die dreiköpfige Musikgruppe die Handlung weitertragen. Die Gesten der Verführung zwischen Krishna und seiner Gemahlin Radha geraten etwas linkisch. Später ist Krishna mit prachtvollen Pfauenfedern geschmückt. Die Frauen im Publikum eilen zur Bühne. Sie überreichen ihm Geld, füttern ihn, berühren ihn ehrfurchtsvoll. In die erste Banane, die ihm hingehalten wird, beißt er kräftig hinein. Längst spielt der Junge nicht mehr den Gott. Als Krishna verteilt er Segen. Immer mehr Frauen kommen nach vorne, um ihn zu bemuttern, ihm Süßigkeiten in den Mund zu stopfen, und eine Banane nach der anderen, die zunehmend mühsamer verdrückt werden, bis Krishna die Zähne bleckt und die Gaben zur Seite gebeugt ausspuckt. Als überfüttertes Kind blickt er etwas überfordert umher.

In einer Jauchegrube liegen weggeworfene Teetassen. Einige der Becher sind aus zerknülltem Plastik; die anderen hingegen aus Ton und schon dabei sich aufzulösen. In der kleinen Grube liegt Neues und Altes, Ewiges und Vergängliches nebeneinander. Es ist Mauni Amavasya, der wichtigste von vier Badetagen, und angesichts der größten Menschenansammlung aller Zeiten hat das Ewige eine bedrohliche Note. Unter die Millionen gefallen lernt man den Wert des Vergänglichen schätzen. Um drei Uhr in der Früh wird der Staub der Straßen von unzähligen Fersen auf dem Weg zum Sangam aufgewirbelt.
Eine der Pontonbrücken ist der karnevalartigen Prozession der Sadhus vorbehalten. Wie Könige thronen die Gurus der Gurus auf reich geschmückten Wagen, gefolgt von ihrem Fußvolk. Geringere Sadhus halten Sonnenschirme über die Hüter des Wissens. In Wellen strömen die Akharas zum Fluß, ihre gewaltigen Fahnen segeln im frischen Morgenwind. Die Menge ist eine ruhende Masse, die an den Rändern, hinter den provisorischen Zäunen, zu Drängelei ausfranst. Sie wartet auf den als Segen empfundenen Blick auf die heiligen Männer. Längst ist die Menge der Zählung entwachsen. Journalisten schätzen – Masse mal Daumen – 11, 22 oder 33 Millionen. Die Polizei patrouilliert entlang der hölzernen Absperrung und schwingt ihre Schlagstöcke mit der Unerbittlichkeit von Heckenschneidern.
Am Ufer frenetisches Gedränge. Stoßen, Schreien, Treten, Schlagen. Wahnhaftes Verhalten. Irre Eile. Gier auf die Reinigung. Alte Sadhus halten sich an den Händen, zitternd. Schmieren sich nach dem Bad mit Vibhuti ein, in Plastiktüten mitgebracht. „Dieses Wasser ist Wahrheit“, sagt einer von ihnen. „Gott ist in uns, aber oft sind wir uns dessen nicht bewußt. Aber dieses Bad, dieser Aufenthalt hier ist ein Weg, Gottes Gegenwart zu spüren. Es ist wie mit der Butter in der Milch, die man nicht sieht, bevor man nicht die Milch zum Schäumen bringt. Wir üben das aus, wovon du nur hörst.“ Über Lautsprecher wird das Ende der Badezeit ausgerufen. Polizisten schlagen auf Badende ein, die noch halb angezogen sind, bemüht ihr mageres Bein durch ein Hosenbein zu schlüpfen, oder Frauen, die sich nicht schützen können, weil sie mit den Händen den noch nicht gebundenen Sari festhalten.
Das Tageslicht erweckt ein Schlachtbild zur Leben. Der Aufmarsch der Juna Akhara, der militantesten Akhara, von einem indischen Journalisten die ‘Hell’s Angels unter den Sadhus’ getauft. Der Badeplatz wird von der Polizei bis auf die letzte Person geräumt. Vorneweg zwei Naga Sadhus auf geschmückten Pferden: einer, der die Standarte hält, und einer, der einen harten Rhythmus schlägt. Schlangenförmige Fanfaren und Dreizacken ragen aus dem Pulk von tausend Naga Sadhus, die durch den Staub gerannt kommen, mit rüdem Geschrei, die Düne hinab in den Fluß rasen, im Wasser plantschen und spritzen und hüpfen, bevor sie wieder hinaus rennen. Dies scheint nicht der Moment für Frömmelei zu sein. Nasse Naga Sadhus nehmen Kampfposition ein, schwingen blitzende Schwerter. Tänzeln auf der Stelle herum; verharren bewegungslos. Ein wütender Sadhu entreißt einem Journalisten die Kamera und zerschmettert sie auf dem Boden. Einige seiner Brüder begleiten ihn bei einem ekstatischen Tanz über die besiegte Kamera.
Auf der anderen Seite der Landzunge wird dagegen eine Fotosession abgehalten. Sadhus erklettern die Absperrung und werfen sich in maskuline Posen, unter ihnen der Ganges, zwischen ihnen und dem Fluß eine Meute von Fotografen. Die launischen Diven lassen sich zuerst ablichten, dann verscheuchen sie mit rüden Gesten die Knipser. Ein Polizist beginnt, mit Steinen auf die Fotografen zu werfen; ein Sadhu macht es ihm nach, mit erheblich größeren Steinen. Ein anderer Sadhu bewirft den Polizisten mit kleinen Steinen. Es kommt zu Schlägereien. Einige verlieren das Gleichgewicht, klammern sich verzweifelt an die Absperrungen. Einer mit Dreizack ist auf ein Gitter gestiegen und versucht verzweifelt, die anderen Sadhus davon abzuhalten, weiter nach vorne auf die Brücke zu drängen. Bald ist die ganze Brücke ein einziger stehender Fluß von dunklen Leibern. Eine Armee von nackten Heiligen überbrückt den Ganges.
„Diese Prozessionen haben mit Religion nichts zu tun.“ Shrivatsa Goswami ist ein Tempeloberhaupt von hoher Bildung, der sogar in Harvard gelehrt hat. „Die Lautsprecher sind die größte Sünde. Hier ist überall so viel Schund. Die typische Heuchelei des Kaliyug, unseres düsteren Zeitalters. Wir Menschen befinden uns in einer Krise – das gilt für die gesamte Welt. Das erste, was ich gesehen habe, als ich herkam, war ein Mann mit einem kleinen Bündel auf dem Kopf. Kalpvasis wie er machen die Kumbh Mela zu einer wirklichen Mela. Nicht diese häßliche Schau, diese Angeberei. Wenn man dem heiligen Wasser nicht richtig entgegentritt, vergewaltigt man Mutter Ganga. Eigentlich darf man sich Ganga überhaupt nicht auf einem Fahrzeug – welcher Art auch immer – nähern. Nur zu Fuß. In den letzten 50 Jahren haben wir Ganga umgebracht. Das ist nicht mehr unsere geliebte Göttin, das ist eine dreckige Kloake. Und diese Veranstaltung ist die größte Ansammlung von Sündern auf der Welt. Ganga wird die ganzen 12 Jahre benötigen, um sich davon wieder zu reinigen. Wir Menschen stellen das Unendliche aus dem Endlichen her, und nennen es heilig.“

Worin liegt die Einigkeit in dieser Vielfalt? Friede, in den Worten eines Studenten? Energie, in den Worten eines Priesters? Die Befremdung, die ein westlicher Besucher erlebt, könnte vermuten lassen, man habe einer überwältigenden Manifestation östlicher Eigenart beigewohnt, auf die viele Inder mit großem Stolz verweisen, weswegen sie von dem Besucher auf Schritt und Tritt die Güte ihrer Kultur bestätigt haben wollen. Auf das Erleben des Gemeinschaftlichen und auf die Einschränkung der Materiellen kann man wirklich stolz sein. Andererseits wird einem von Tag zu Tag klarer, daß der Aberglaube in diesen Weiten niemals wirklich angegriffen, zurückgedrängt worden ist. Auch im 21. Jahrhundert richtet sich die Skepsis der Mehrheit gegen das Erklärbare und Beweisbare. So wird die hinduistische Lehre, daß alles vom Menschen sinnlich Wahrnehmbare nichts als Täuschung (Maya) sei, zu einem mißverstandenen Fundament für geisterhafte Luftschlösser. In denen es sich glücklicher leben läßt als auf dem harten Boden der Realität. Weiterhin treffen die Worte des großen deutschen Indologen Heinrich Zimmer zu: „Ein so hoher Aufschwung zum transzendenten Bereich wie der Indiens wäre nie unternommen worden, wenn die Lebensbedingungen nur um ein geringes weniger hoffnungslos gewesen wären. Erlösung kann nur dann zum Hauptanliegen des Denkens werden, wenn das, was die Menschen an ihr normales Erdendasein bindet, keinerlei Hoffnung gewährt.“