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Werke

Die letzte Leere

Eine Kreuzfahrt in die Antarktis, wo ein einsamer Beamter Pässe stempelt und die Pinguine auf dem Packeis ausrutschen

 

Am Nachmittag des dritten Tages vor der Antarktis verstummen alle an Bord – sogar der philippinische Barmann unterbricht seinen Witz, stellt das Weinglas beiseite und blickt hinaus. Wir gleiten durch einen natürlichen Kanal, zu beiden Seiten weiße Wände, so weit das Auge hinaufreicht, und vor uns die schwarz schimmernde Oberfläche eines gläsernen Wassers. Die Welt ist unmerklich in eine Kreidezeichnung verwandelt worden. Die Passagiere gehen zum Außendeck, stehen dort eingemummt und dicht gedrängt, stumm, regungslos, als halte unser träges Schiff Andacht. Es ist ein demutsvolles Schweigen, Ausdruck einer Überwältigung, die sich seit Tagen aufgebaut hat – seit dem Sichten der ersten Albatrosse, der ersten Eisberge, der ersten Wale, der ersten spitzen Inseln, die aus dem Dunst so unvermittelt herausragen, dass sie einen erschrecken. Am Ausgang des Kanals öffnet sich der Ausblick, auf ein ausuferndes Wasser, vereiste Berge und gebuckelte Gletscher, ihr Türkis die einzige grelle Farbe unter einer Glocke gedeckter graublauer Töne.

Aufgebrochen sind wir mit der MS Nordnorge, einem sehr stabilen Kreuzfahrtschiff für vierhundert Passagiere, in Ushuaia, einem Ort im tiefsten Süden Patagoniens, dessen Geschichte – Ausrottung von Ureinwohnern, Zwangsarbeit und Häftlingskolonie – man gern hinter sich lässt. Während der ersten beiden Tage und Nächte an Bord müssen sich Besatzung und Passagiere normalerweise der schwersten maritimen Prüfung unterziehen. Doch bei unserer Durchquerung der berüchtigten Drake-Passage herrschte unverhofftes Wetterglück. Wir haben die antarktische Konvergenz ohne blaue Flecken und zerbrochenes Geschirr überstanden. Die gefürchteten bis zu 20 Meter hohen Wellen sind ausgeblieben.

Schon am Anfang wurde klar, dass es sich bei einer Antarktisfahrt um eine besonders intensive Bildungsreise handelt. Vormittags und nachmittags halten die hervorragenden Lektoren Vorträge, entschlüsseln uns die Fremde, die einem draußen in ihrer ganzen Rätselhaftigkeit entgegenschlägt. Als sollten wir im Bauch des Schiffes dafür belohnt werden, dass wir auf dem eisig kalten Außendeck ausgeharrt haben. So trifft täglich persönliches Erstaunen auf profunde Information. Schon verstehen wir, wieso die Luft draußen merklich kühler geworden, die Temperatur des Wassers über Nacht um etwa fünf Grad gesunken ist. Denn bei der antarktischen Konvergenz treffen die wärmeren Wassermassen des Nordens auf die kälteren, dichteren und weniger salzhaltigen Gewässer des Südens und bilden die größte Ozeanströmung der Welt, die um die Antarktis kreist.

Die Lektoren sind in der Mehrzahl Wissenschaftler, der Expeditionsleiter etwa hat als Geologe jahrelang in der Antarktis geforscht. Spannend erzählen sie über das Antifrostmittel im Blut der Fische, über die Entsalzungsdrüsen in den Schnäbeln der Sturmvögel, über das Navigationssystem der Pinguine. Die Lektoren wollen zum Nachdenken über klimatische und ökologische Zusammenhänge anregen. Und das gelingt ihnen trotz des didaktischen Tons, über den sich manche Passagiere ab und an beschweren. Für die meisten von uns ist diese Reise die Erfüllung eines alten Traums. Nicht nur wegen der entzückenden Pinguine oder der mystischen Eisberge, sondern auch weil wir uns hier jenseits der Zivilisationsgrenze befinden, auf die letzte Wildnis treffen.

Bevor die Kreuzfahrtschiffe die Antarktis erreichen, ankern sie meistens vor den Südshetlandinseln. Nach einigen Tagen an verschiedenen Orten der Antarktischen Halbinsel geht es über Südgeorgien im Atlantischen Ozean zurück nach Ushuaia oder Buenos Aires. Auch unser erster Halt sind die Südshetlandinseln, die aus dem Wasser ragen wie Gipfel eines überschwemmten Gebirgslandes. Vulkanische Krater liegen hier so tief, dass man in sie hineinsegeln kann. Zu keinem anderen Zeitpunkt fährt unser Schiff so bedächtig wie während der engen Einfahrt in die Caldera von Deception Island, ein Name, der die Insel wegen ihrer versteckten inneren Bucht als Täuschung bezeichnet. In dem natürlichen Amphitheater betrieben norwegische Walfänger am Anfang des 20. Jahrhunderts die südlichste Trankocherei der Welt, im Zweiten Weltkrieg errichteten die Briten eine Forschungsstation. Eine halb zerfallene Baracke erinnert daran. Hier treffen wir zum ersten Mal auf Pockennarben menschlicher Besiedlung, die später der ansonsten unberührten Landschaft der Antarktis noch mehr Zauber verleihen und auf dem Rückweg unseren Eindruck von Südgeorgien prägen werden.

Am Abend, als die ungewöhnlich ausgiebigen Sonnenstrahlen dieses Tages einem dämmrigen Graulicht weichen, wirkt das Meer wie Magma. Große Vögel gleiten durch das unnachgiebige Zwielicht, schnitzen die Kaltluft mit steifen Flügeln. Einige Sturmvögel steigen hinauf, fallen hinab, in hastigen Bögen; die kleineren unter ihnen verschwinden für Augenblicke in den Futtertrögen zwischen den Wellen, hinter glimmenden Kämmen. Und wenn die Dunkelheit alles eingeschwärzt hat und die Sterne nicht erglühen und der Wind sich mit einem Hauch begnügt, scheint das Schiff ins Unbekannte zu treiben, in die letzte Leere.

Am nächsten Tag erreichen wir die Antarktische Halbinsel, an deren Rändern sich 95 Prozent des Antarktistourismus abspielen. In ihre Steilküste schneiden sich ungezählte Fjorde, sie ist von vielen Inseln umlagert. Wir besuchen Port Lockroy auf Goudier Island. Es gibt einen Souvenirladen, ein winziges Museum und ein winziges Postamt. Der Einzige, der hier lebt, ist ein britischer Beamter. Seine Morgenaufgabe besteht darin, unsere 400 Pässe abzustempeln, während wir uns im Gänsemarsch durch das enge Museum drängen, eine Blockhütte (Holz überdauert in der schlimmsten Kälte), deren Einrichtung von der frugalen Existenz der Pioniere zeugt. Nur die Hälfte der Insel ist für Besucher zugänglich, was es Wissenschaftlern ermöglichte, die Wirkung des Tourismus auf die einheimische Pinguinkolonie zu studieren. Zu ihrem Erstaunen stellten sie fest, dass sich der Teil der Kolonie, der von Touristen besichtigt wird, stärker vermehrt hat. Wie sehr sich die Tiere an die Besucher gewöhnt haben, kann jeder von uns bezeugen – es ist angesichts der ausgeprägten Neugier der Pinguine geradezu unmöglich, die von der International Association of Antarctica Tour Operators vorgeschriebenen fünf Meter Abstand zu halten.

Die MS Nordnorge ist klein genug, um fast jeden Kanal zu durchfahren, jeden Fjord zu erkunden. Manchmal gleiten wir nur wenige Meter an zerschnitzten Felsen vorbei, an zerfurchten Gletschern, die farbsensibel auf den Kot der Pinguine reagieren – je grüner der Gletscher, desto größer die Kolonie.

Spektakulär ist die Passage durch die enge Wasserscheide des Lemaire-Kanals. Das Treibeis unter dem strahlend blauen Himmel sieht aus der Ferne wie ein weißer Teppich aus. Doch kaum durchstoßen wir die Packeisdecke, wird die von ihr ausgehende Bedrohung spürbar. Die Eisschollen knallen wie Ohrfeigen gegen den verstärkten Rumpf des Schiffes, das Treibeis schließt sich hinter uns wie eine im Zeitraffer heilende Wunde. Für einige Minuten können wir uns vorstellen, wie es ist, wenn das gefrorene Meer sich immer dichter aufhäuft, das Schiff umklammert und irgendwann zum Bersten bringt. Haarscharf, wie mit einem Lineal gezogen, verläuft die Treibeiskante. Im Westen ist die Antarktische Halbinsel von strömendem Wasser umgeben, im Osten hingegen dominieren weiterhin gewaltige Eisschelfe das Weddellmeer.

Beim Abendessen blicken wir von unserem Teller direkt auf einen vorbeitreibenden Seelöwen, der sich auf seiner Eisscholle ausgiebig reckt. Das ist typisch für eine Antarktiskreuzfahrt: Die Wildnis fließt während der üppigen Mahlzeiten vorüber, eine fast beschämende Dekadenz im Vergleich zu den Erfahrungen der Reisenden aus früheren Jahrhunderten, von deren Strapazen hier an Bord immer wieder die Rede ist. Aber auch wenn man die Entbehrungen und Abenteuer von James Cook, den norwegischen Robbenjägern, den Polarforschern aus England, Deutschland, Amerika oder Australien nicht nacherleben kann, so kann man sie simulieren. Bei stürmischem Wetter tritt man aufs Außendeck und versucht, sich gegen den heulenden Wind zu stemmen, die peitschende Gischt und Schnee im Gesicht. Die Luft wird einem aus der Lunge geschlagen, und selbst im Schutz mehrerer Schichten des besten Materials, das die Kleidungsindustrie bereitstellt, ist man nach wenigen Minuten durchgefroren.

Die Überfahrt nach Südgeorgien könnte den Eisbergen gewidmet sein, derart viele begegnen uns, mal so groß wie das Land Luxemburg, mal so klein, dass wir sie vor unseren eigenen Augen schmelzen zu sehen meinen. Die Mehrzahl sind Tafeleisberge, die von der meerseitigen Eisschelfkante der Antarktis abgebrochen sind, flache, bis zu hundert Meter hohe Eisplatten. Manch kleinere sind von Meer und Sonne rund poliert und gleichen wunderschönen Skulpturen. Manche treiben nach Norden und vergehen in der zunehmenden Wärme, andere umkreisen jahrzehntelang den eisigen Kontinent.

Aus der Ferne erscheinen sie wie Frachtschiffe voller weißer Container, und so falsch ist dieses Bild nicht, denn die Eisberge enthalten das frischeste Wasser und die reinste Luft, die wir auf Erden haben, vor Tausenden Jahren in die Kristalle eingeschlossen und nun bei langsamer Fahrt schmelzend gelöscht. Je länger wir das treibende Eis betrachten, desto faszinierender erscheint es. Es verkörpert das Gedächtnis der Erde. Eine Tiefe von 900000 Jahren haben die Bohrungen des Eiskernprojektes Epica schon erreicht, die seit mehr als zehn Jahren von Wissenschaftlern aus zehn europäischen Ländern durchgeführt werden. Entlang dieses Weges hinab in die Vergangenheit wird sichtbar, welche klimatischen Bedingungen unser Planet erlebt und überstanden hat.

Schon auf der Antarktischen Halbinsel gab es für uns reichlich Gelegenheit, Pinguine zu bestaunen, bei jeder Landung, an verschiedenen, meist dicht bevölkerten Buchten. Es ist kein Wunder, dass diese Tiere so beliebt sind. Pinguine weisen genügend Ähnlichkeiten mit den Menschen auf, um uns zu rühren. Zugleich wirken sie so andersartig, dass sie uns belustigen. Der aufrechte Gang, die hochschnabelige Kopfhaltung, das unentwegte Schnattern — manchmal recken sie den Hals, bis sich ihre Silhouette vom Fragezeichen in ein Ausrufezeichen verwandelt. Von Zeit zu Zeit flattern sie mit ihren Stummelflügeln, fahren sie in Bewegung aus, so als sei das Laufen eine Trockenübung für das Fliegen. Gelegentlich verlieren sie den Halt; Pinguine rutschen noch öfter aus als die Menschen.

In Südgeorgien, das wir nach zwei Tagen und 800 Kilometern erreichen, wimmelt es von Königspinguinen, der vielleicht schönsten Art dieser Familie. Sich einer Kolonie zu nähern ist nicht nur wegen des stechenden Geruchs ein Erlebnis. Die Königspinguine stehen zu Tausenden beisammen, schützen sich gegenseitig vor der Kälte, und jedes Vogelkind scheint nach Kräften um sich zu schreien. Von ihren Eltern werden die Jungen anhand der unterschiedlichen Tonlagen erkannt, nur in den Augen des Besuchers sind sie sich zum Verwechseln ähnlich. Die Kolonien sind voller Neugeborener, die in den Brutfalten ihrer Väter am unteren Bauch vor der Kälte geschützt werden. Wenn sie sich hinaustrauen, bleiben sie ganz nahe bei der Mutter, stützen sich an ihr ab und verlangen unablässig plärrend nach Nahrung. Sie sind dunkelbraun und überaus hässlich. Erst mit etwa einem Jahr legen sie ihr Daunenkleid ab. Das sieht aus wie ein alter Sack mit Schlupfloch, der den Kleinen unachtsam übergestülpt wurde. Darunter kommen dann die wahren Pinguine zum Vorschein. Allerdings dauert es noch einige Zeit, bis sie alle Federflecken verlieren und in ganzer Pracht erstrahlen. Die Metamorphose ist noch erstaunlicher als die Wandlung des Entleins zum Schwan in Andersens Märchen. Dass niemand vom hässlichen Pinguinchen spricht, ist nur der fehlenden Antarktiserfahrung der Menschheit zuzuschreiben.

Weil Südgeorgien über einige gut geschützte Buchten verfügt, hatten sich hier in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die meisten Walfänger niedergelassen. Außer behelfsmäßigen Baracken errichteten sie Industrieanlagen, in denen die Wale verarbeitet wurden. Die Fabriken in der Station Grytviken sind verrostet und einsturzgefährdet, was ihre düstere Anmutung verstärkt. Der einstige Pier, auf dem die gewaltigen Säuger angelandet wurden, ist gesperrt. Daneben sieht man Überreste des Flensdecks, wo die Zerlegung stattfand. In den Hallen kochte man die Einzelteile, bis sie in Speck, Fleisch und Knochen zerfielen. Zwanzig Minuten dauerte es, ein Tier zu verarbeiten. Allein in Grytviken, der größten von sieben norwegischen Walstationen, wurden im Laufe von 60 Jahren 174000 Wale geschlachtet; insgesamt waren es 1,5 Millionen.

Als alles Tier »geerntet« war, gaben die Menschen die Stationen auf. Seit Mitte der sechziger Jahre verfielen und verrotteten Bauten und Werkzeuge – bis in den Neunzigern ein englisches Pärchen auf Weltumsegelung hier haltmachte, fünf Jahre blieb und ein sehenswertes Museum voller Erinnerungsstücke an die Walfänger sowie die Erforscher aus den Glanzzeiten der Polarexpeditionen einrichtete. Momentan setzen im Sommer zwanzig Arbeiter die ehemalige Station instand. Einige Hundert Meter von den Ruinen am Strandentfernt liegt in einem tiefen Schlammloch eine Gruppe von See-Elefanten, faul, fett und feist, die einzige Bewegung ein gelegentliches Heben des schweren Kopfes sowie eine beängstigende Geste: Der See-Elefant ist wohl das einzige Tier auf Erden, das andere Lebewesen mit seinem Gähnen einschüchtert. Zu unserem großen Erstaunen galoppiert eine Herde Rentiere im Hintergrund vorbei. Die norwegischen Fischer waren offensichtlich nicht nur mit der Ausrottung der Wale beschäftigt, mit ihren heimischen Tieren haben sie hier gleichzeitig die Fauna angereichert.

»Wenn die Antarktis untergeht, geht die Menschheit unter«, steht am vorletzten Tag als Motto über dem Tagesplan für den Antarktisreisenden. Das kann man wörtlich nehmen. Ein Schmelzen der Eismasse würde nicht nur alles Tiefland unter Wasser setzen, es hätte unvorhersehbare Folgen für das gesamte Klimasystem. Noch hält das Eis der Antarktis dem Druck der globalen Erwärmung stand, in der Arktis hingegen hat der feurige Sommer 2007 eine Fläche von der vierfachen Größe Deutschlands dahingeschmolzen. Die Arktis wird umspült von wärmeren Gewässern aus dem Süden, die Antarktis hingegen ist abgeschnitten durch den Zirkumpolarstrom, der sie vor der Erwärmung schützt.

Die Antarktis ist ein Beispiel menschlicher Vernunft. Hier gilt der Antarktisvertrag, der jegliche wirtschaftliche Nutzung untersagt und territoriale Ansprüche einfriert, immerhin bis 2048. Während mit dem Ende der Arktis schon nüchtern gerechnet wird und die Anrainerstaaten es gar nicht erwarten können, die Bodenschätze dort abzubauen, ist die Antarktis noch zu retten. Während im hohen Norden Laisser-faire herrscht, wird im tiefen Süden der Tourismus so sorgsam reguliert wie nirgendwo sonst auf der Welt. Ein Land, das zu keinem Staat gehört und von niemandem bewohnt wird, hieß einst Terra Nullius – die Antarktis ist das letzte Terrain dieser Art. Am Ende unserer Reise verspürt manch ein Passagier das Bedürfnis, diese Unberührtheit zu schützen.

Die leisen Motorengeräusche nimmt das Ohr kaum noch wahr, der Blick auf die antarktische Szenerie lässt einen die Zivilisation leicht vergessen: kein Flugzeug, kein Treibholz, kein Mast in Sicht, nur Wind und Wellen, nur uralte Formationen aus Eis und Gestein, die sich (noch) ohne unser Zutun wandeln, nur Vögel, die flüchtige Nachrichten in den monochromen Himmel schreiben, deren Sinn wir nicht entziffern können

ZEIT online, 12.12.2008