Lesewelten

Der Wunschfluch

 

So viele Geburtstage, so wenige Tage
oder Der Wunschfluch

Über vieles wunderte ich mich als Kind, über Hüte, Bärte und hohe Mauern, über das Wort Glück, das meine Mutter ständig im Mund führte, mein Vater hingegen niemals benutzte, und über den Satz „das kann man so nicht sagen“ (gerade nachdem es so gesagt worden war), doch nichts verwunderte mich mehr als eine Märchenszene, die sich erstaunlich oft wiederholte. Wann immer einem Junge oder einem Mädchen, einer Küchengehilfin oder einem Fischer, auf offener See oder vor dem Kamin die Erfüllung eines Wunsches in Aussicht gestellt wurde, wunderten sich die Auserwählten, was sie der guten Fee antworten sollten. Und wählten meist das Falsche. Wie konnte es sein, dachte ich als Kind, daß sie alle nicht wußten, wonach ihnen der Sinn steht. Mir war hingegen völlig klar, was ich mir — gesetzt den Fall — wünschen würde: jeden Tag Geburtstag zu haben.

Denn wirklich Spaß machte das Leben nur an diesem Tag, der Geburtstag war die Krönung des Jahres. Alle anderen Tage waren Watte und Pappe; an ihnen gab es bloß schrillende Wecker, trockenes Pausenbrot, verlorene Pullover und aufgeschürfte Knie. Der Geburtstag aber verwandelte den Knirps in einen Prinzen. Und das nicht allein wegen der vielen Geschenke, von denen man nächtelang träumte, sondern vor allem wegen der Aufmerksamkeit, die man erfuhr. Kaum verkündete man, dass man Geburtstag hatte, schon stand man im Mittelpunkt. Selbst Fremde überschütteten einen mit Nettigkeiten: Am Kiosk bekam man einen Lutscher oder einen Comic geschenkt, im Café wurde einem ein besonders großes Stück Kuchen, im Restaurant ein besonders leckeres Gericht serviert. Wenn man doch nur die vielen überflüssigen Blätter des Kalenders auf einmal abreißen könnte, um täglich Geburtstag zu feiern: Wie oft hatte ich mir das insgeheim gewünscht…

Ich wußte also keine Sekunde lang nachdenken, als an meinem 16. Geburtstag eine Fee erschien, in der Uniform einer Krankenschwester, denn mir war just der Blinddarm entfernt worden.
„Alles Liebe zum Geburtstag. Du hast einen Wunsch frei.“
Ich nahm an, sie wolle ein Spiel mit mir spielen, um mich aufzumuntern und darüber hinwegzutrösten, dass ich an diesem Abend keine Party steigen lassen konnte, und so spielte ich mit.
„Dann wünsche ich mir, jeden Tag Geburtstag zu haben“.
„Wird erledigt“, sagte die Fee, lächelte mich an, flüsterte mir „Alles Liebe zum Geburtstag“ zu, und ihre Lippen tupften einen Kuss auf meine Stirn, der für meinen Geschmack leider ein wenig zu mütterlich ausfiel.

Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, erblickte ich auf dem Beistelltisch viele bunte Päckchen. Noch ganz schlaftrunken wunderte ich mich, dass ich am Vortag meine Geschenke nicht ausgepackt hatte, bis ich mich erinnerte, wie ich sie gierig aufgerissen und auch ausgiebig gewürdigt, sie am Abend aber meinem Vater mitgegeben hatte. Merkwürdig, dachte ich, warum hat Vater die Geschenke wieder eingewickelt und früh am Morgen, noch bevor er zur Arbeit geht, vorbeigebracht?
Ich richtete mich auf und packte das erstbeste aus. Zum Vorschein kam ein eleganter, kabelloser, schwarzer Kopfhörer. Überrascht suchte ich zwischen all den Päckchen nach einer Glückwunschkarte, denn es war gewiß keines der Geschenke vom Vortag. Doch nichts, ich fand nicht den geringsten Hinweis. Schon wollte ich zum Telefon greifen, um meine Eltern zu den verspäteten Geburtstagsgaben zu befragen, als einige Krankenschwestern hereinwehten, „Hoch soll er leben“ auf den Lippen, während der Chefarzt mir feierlich eine CD überreichte, verpackt in Klarsichtfolie mit einer roten Schleife drumherum, und ganz zum Schluss drängelte sich noch die Reinemachefrau vor und drückte mir ebenfalls ein kleines Präsent in die Hand, einen aus Seife geschnitzten Smiley. Gewiss ein neuer psychologischer Trick, um die Patienten aufzuheitern, überlegte ich, als mich später zwei der Krankenschwestern betüddelten, als wäre ich ihr Augapfel.
Kaum waren sie verschwunden, ging erneut die Tür auf, und meine Eltern kamen herein, um mich mit tausend Glückwünschen zu herzen. Eine Stunde später gesellten sich meine Geschwister hinzu und verkündeten mit zerknirschtem Hochmut: „Heute machen wir alles, was du möchtest“. Da wurde mir mit einem Schlag klar, dass die Krankenschwester tatsächlich eine Fee und ihr Versprechen ernst zu nehmen war, und freudig lehnte ich mich zurück, bereit, die Erfüllung meines innigsten Wunsches zu genießen.

Euphorie, Glück und Entzückung, Wochen, Monate lang. Zur Feier des Tages kochte mir meine Mutter alles, was mein Herz begehrte, jeden Nachmittag stand eine andere Geburtstagstorte auf dem Kaffeetisch, selbstgebacken oder von der besten Konditorei der Stadt geliefert, ich bekam Karten geschenkt für die Konzerte meiner Lieblingsbands (und die Leadsänger wünschten mir „Happy Birthday!“, von der Bühne herab), feierte mit meinen Klassenkameraden wilde Geburtstagspartys in sämtlichen Diskos der Stadt, wobei ich jede Menge Küsse von schönen und weniger schönen Mädchen erhielt, und war mit meinem Vater nicht nur beim letzten Heimspiel vor der Sommerpause, sondern auch beim ersten der neuen Saison, auf der Gegentribüne, mittig, da für das Geburtstagskind nur die besten Plätze gut genug waren. Ich erfreute mich an den meisten Geschenken, und doch fiel mir auf, dass ich manche beiseite legte und schnell vergaß, es waren der Geschenke einfach zu viele, sodass ich irgendwann damit begann, das eine oder andere an meine Freunde weiterzuschenken, wenn sie Geburtstag hatten, und den Rest, fein säuberlich sortiert in Kisten verpackt, hinauf auf den Dachboden zu bringen.

·◊·

Am Morgen nach meinem siebzehnten Geburtstag – dem wahren, dem Tag, an dem ich geboren war –, kam mir in den Sinn, dass es ganz angenehm wäre, mal ein paar Geburtstage ausfallen zu lassen. Nach dem Abitur würde ich zu einer Rucksackreise durch den Süden aufbrechen, dachte ich arglos, das ließe sich leicht bewerkstelligen: Ich musste Verwandten und Freunden bloß meine Reiseroute verschweigen.
Gedacht, getan: Am ersten Abend suchte ich mir in einer Stadt am Hang der Berge eine Jugendherberge und legte mich gut gelaunt in einem Saal mit zwanzig Betten schlafen.
Am nächsten Morgen weckte mich ein vielstimmiger Chor. Mit vom Schlaf verklebten Augen erblickte ich die anderen Herbergsgäste, Japaner, Schweden, Holländer und Israelis, aufgereiht neben meinem schmalen Bett. Sie schmetterten „Happy Birthday“, und kaum waren sie damit fertig, trat der Herbergsvater vor und überreichte mir ein schokoliertes Lamm, zusammen mit einer brennenden Kerze.
„Aber … aber woher wissen Sie?“, stammelte ich.
Der Herbergsvater strahlte. „Ihr Pass hat Sie verraten, junger Mann.“ Er reichte mir mein Dokument. „Sie würden staunen, wie häufig hier Geburtstag gefeiert wird.“
Die Japaner, Schweden, Holländer und Israelis setzten sich auf mein unter der Last ächzendes Bett, und wir verspeisten gemeinsam das Lamm, wonach sie mir alle auf die Schulter klopften und sich aufmachten, die mittelalterliche Stadt zu erkunden.
Kaum waren sie weg, schlug ich meinen Pass auf. Tatsächlich: Die Fee hatte ganze Arbeit geleistet. Unter date of birth stand das Datum des heutigen Tages — es gab kein Entkommen.
So ging es weiter, von Feier zu Feier, Jugendherberge zu Jugendherberge, Stadt zu Stadt, Land zu Land. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich in mein Schicksal zu fügen. Ein einziges Mal wagte ich noch, aufzubegehren, doch es gab keine Rettung vor den Geburtstagseiferern: Als ich behauptete, meinen Pass verloren zu haben, ließ man mich nicht in der Herberge übernachten und legte mir nahe, zur Polizei zu gehen. Dort hätten die Beamten nach Übermittlung meiner Daten garantiert das nächste Geburtstagsständchen intoniert.

So verging fast ein Jahr, und ich sehnte mich schon arg nach einem geburtstagsfreien Tag. Zum Studium zog ich in die Hauptstadt, weit von meinen Eltern entfernt. Die beiden ersten Tage waren sehr angenehm, ich kannte noch keine Kommilitonen, hatte noch keine Freundschaften geschlossen und auch die Hausbewohner hatten noch nicht bemerkt, dass ein neuer Mieter eingezogen war, sodass meine Ruhe nur gestört wurde durch die Anrufe meiner Eltern, Geschwister, Onkeln und Tanten, Taufpaten und Schulfreunde.
Um einmal einen Morgen keine Glückwünsche entgegennehmen zu müssen, stöpselte ich eines Abends das Telefon aus, zog die Gardinen zu und drehte den Wohnungsschlüssel dreimal um. Voller wohliger Zuversicht schlief ich ein.
Am nächsten Morgen weckte mich ein beharrliches Pochen. Von der Tür meines winzigen Apartments vernahm ich die Stimmen meiner Eltern. In der Annahme, sie würden aufgeben, wenn ich nicht reagierte, zog ich mir die Decke über den Kopf. Doch es half mir nichts: Irgendwann hörte ich meinen Vater aufgeregt mit einem Mann, vermutlich dem Hausmeister, debattieren und ihn bitten, Notarzt und Polizei zu rufen, da seinem Jungen mit Sicherheit etwas zugestoßen sei. Da blieb mir nichts anderes übrig, als ihnen die Tür zu öffnen, und resigniert nicht nur die erleichterten Glückwünsche meiner Erzeuger, sondern auch die des Hausmeisters entgegenzunehmen.
„Hast du irgendwelche Drogen genommen?“, fragte meine Mutter mit aufdringlicher Besorgnis, und als ich unwirsch verneinte, fauchte mich mein Vater an, sie hätten extra den Nachtzug genommen, um mit mir meinen 18. Geburtstag zu feiern, ich könne ja wenigstens etwas Freude heucheln. Der 18. Geburtstag? Der süße Geschmack von Hoffnung breitete sich in meinem Mund aus: Vielleicht lag der Fluch der Fee ja nur so lange auf mir, wie ich achtzehn war? Bis zu meiner Erlösung hatte ich allerdings noch, schnell rechnete ich nach, zweihundertachtundneunzig Geburtstagsfeiern zu ertragen.

Keinem anderen Geburtstag fieberte ich so entgegen wie meinem wahren neunzehnten. Die Semesterferien hatten gerade begonnen und ich war gerade zu Besuch bei meinen Eltern, untergebracht in meinem alten Kinderzimmer.
Der Tag begann äußerst vielversprechend. Niemand weckte mich mit schmatzenden Geburtstagsküssen, auf dem Nachtkasten lag kein Geschenkehaufen, und auch im Wohnzimmer waren keinerlei Anzeichen einer bevorstehenden Feier zu entdecken. In der Küche trank mein Vater seinen schwarzen Kaffee und sah kaum von der Zeitung auf, als er mich mit einen „Na, schon auf, Sohnemann?“ begrüßte. Meine Mutter war noch im Morgenmantel und löffelte geistesabwesend einen Joghurt, und kurz darauf saßen auch meine Geschwister am Tisch und benahmen sich zum ersten Mal seit zwei Jahren so, als wäre es ein Tag wie jeder andere, jeder war mit sich selbst beschäftigt, es war fast wie im Paradies.
Etwas später verabschiedeten sich alle. Ich saß allein in der Küche, aß mein viertes Toastbrot mit Honig und war allerbester Laune. Gerade malte ich mir meinen Tag aus, einen entspannten, von allen Feierpflichten befreiten Tag, da wurde die Tür aufgerissen und meine Geschwister trugen, im Mund Triller und Pfeifen, wie die drei Könige aus dem Morgenland auf großen Tabletts ganze Berge von Geschenken herein, gefolgt von meinen Eltern, die irgendein Kinderlied sangen, in das ich als Einjähriger angeblich ganz vernarrt gewesen war, und dazu laut in die Hände klatschten.
„Reingelegt!“, schrie mein jüngster Bruder und stach mir mit einem Kochlöffel in den Rücken wie mit einer Pistole.
„Guck nicht so traurig“, sagte meine Schwester, „du hast doch nicht im Ernst geglaubt, wir würden deinen Geburtstag vergessen?“
Ich war zu keiner Antwort fähig. Stumm starrte ich auf das Spektakel, während in mir alle Hoffnungen wie Sandburgen zerrieselten.

·◊·

Ich blieb Sklave meiner täglichen Geburtstage. Schon im dritten Semester musste ich einen Tag pro Woche aufwenden, um die Geschenke meiner Familie, der Kommilitonen, Kumpels und Freudinnen loszuwerden, denn sie fanden kaum mehr Platz in meiner engen Studentenbude und es kam mir vor, als würden sie mich erdrücken. Manchmal wurden daraus auch zwei oder gar drei Tage, je nach Geschenkelage.
Und es war wahrlich nicht einfach, mich von den Sachen zu befreien, selbst wenn sie neu und wertvoll waren. Die Antiquare winkten ab und baten mich, erst wieder in einem halben Jahr vorbeizuschauen, sie kämen mit dem Verkauf meiner Bücher nicht nach, und die Altkleidercontainer im näheren Umkreis meines Viertels quollen über, sodass ich mit der U-Bahn immer weitere Strecken fahren musste, um noch halbwegs leere Tonnen für meine prall gefüllten Plastiktüten zu finden. Ich gewöhnte mir an, stets mit einem Rucksack voller Geschenke aus dem Haus zu gehen, sollte ich einem Bettler begegnen. Manchmal stopfte ich auch Hemden, Hosen und Jacken in eine Plastiktüte, ging damit in einen der Läden einer großen Modekette und ließ die Tüte in einer Umkleidekabine oder zwischen zwei Kleiderstangen stehen. Einmal erwischte mich ein Hausdetektiv noch in der Fußgängerzone, keine fünfzig Meter vom Ausgang entfernt, und drückte mir die vermeintlich vergessenen Einkäufe wieder in die Hand.
So zog sich mein Studium in die Länge – zumal es sehr schwierig war, konzentriert zu studieren, wenn man tagtäglich gefeiert wird.

Mit den Jahren erarbeitete ich mir eine gewisse Routine, die das Leben halbwegs erträglich machte. Das änderte sich mit meinem siebenundzwanzigsten – wahren –Geburtstag, als ich eine tolle Stelle in einem renommierten mittelständischen Unternehmen ergatterte und sich schon bald eine steile Karriere abzuzeichnen begann. Von Anfang an war ich in der Firma sehr beliebt, nicht zuletzt, weil ich jedem zum Geburtstag ein großzügiges Zeichen meiner Wertschätzung überreichte. Die Kollegen ließen sich jedoch ebenfalls nicht lumpen: zur Feier meines Geburtstags legten sie zusammen und beschenkten mich reich, ja schlimmer noch, am Nachmittag organisierten sie eine Feier mit Champagner und Häppchen, auf der ein jeder mit mir anstoßen wollte, und am Abend lud der Firmeninhaber mich sowie einen kleinen Kreis bevorzugter Mitarbeiter in ein Drei-Hauben-Restaurant ein, wo zu jedem Gang ein anderes Glas Wein kredenzt wurde, sodass ich betrunken nach Hause wankte, Tag auf Tag, Woche auf Woche. Sobald die Probezeit um war, nahm ich meinen ganzen Jahresurlaub (drei Wochen in einem Trappistenkloster), um nicht zusammenzubrechen, und nach meiner Rückkehr bestand ich darauf, unsere auswärtigen Kunden persönlich aufzusuchen – vorgeblich um mich mit der Auftragslage vertraut zu machen –, um auf diese Weise so selten wie möglich in der Firma zu sein.
Das verschaffte mir ein wenig Erleichterung, wenn auch nicht so viel, wie ich erhofft hatte: Wenn ich im Büro war, knallten die Champagnerkorken weiterhin, und die festlichen Abendessen ließen mich morgens nur sehr schwer aus dem Bett kommen, die Qualität meiner Arbeit ließ nach, Nachlässigkeiten sich schlichen ein, und mir unterliefen einige grobe Schnitzer, die dem Unternehmen teuer zu stehen kamen, worauf die Einladung des Firmeninhabers ausblieb, ich dafür aber in der nachfolgenden Woche die Kündigung erhielt.

Ich hätte mir einen anderen Arbeitsplatz suchen können, doch zu welchem Zweck? Egal, in welcher Branche ich tätig wäre, neben einem anstrengenden Job täglich feiern zu müssen, würde mich früher oder später zermürben. An meinem dreißigsten Geburtstag (dem wahren) beschloss ich deshalb, mich selbständig zu machen, im Hauptberuf fortan Geburtstagskind zu sein. Meinen Eltern gaukelte ich vor, zur Universität zurückgekehrt zu sein, um eine Dissertation zu verfassen. An Heirat oder die Gründung einer Familie war unter diesen Umständen nicht zu denken, meine Liebschaften waren allesamt nur Eintagsfliegen. Ich steckte in einem Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gab.

Leider ließ sich die Fiktion der Dissertation nur einige Jahre aufrechterhalten. Um meinen Eltern nicht das Herz zu brechen, blieb mir nichts anderes übrig, als auszuwandern (alle Geschwister waren inzwischen diplomiert und standen erfolgreich auf eigenen Beinen, was sie keineswegs daran hinderte, mich reich zu beschenken). Die beiden waren zwar traurig, freuten sich aber über die wunderbaren Aufstiegschancen, die mir die angeblich durch einen meiner universitären Kontakte vermittelte Direktorenstelle in Argentinien bieten würde.
Natürlich gab ich mich nicht der Illusion hin, in der neuen Welt vor meinem Geburtstagsfluch in Sicherheit zu sein. Bereits am Flughafen lächelte mich der Einreisebeamte beim Betrachten meines Passes breit an und rief laut „¡Felicidades!“, woraufhin sich ein erstaunlicher Tumult erhob, da alle in der Warteschlage hinter mir in unzähligen Sprachen Glückwünsche ausriefen. Immerhin konnten mir meine Eltern, Geschwister und Freunde keine allzu großen Geschenke mehr schicken; sie begnügten sich mit täglichen Glückwunschbriefen – die natürlich um zwei Wochen zeitversetzt ankamen – und hin und wieder einem Paket, oder sie überwiesen mir eine gewisse Summe, damit ich mir einen schönen Abend machen oder etwas für meine schicke Wohnung in Recoleta kaufen konnte, die ich mir angeblich leistete. Als meine Eltern ihren Besuch ankündigen, musste ich eine derartige Wohnung kurzfristig anmieten. Da meine Eltern ganze zwei Wochen blieben, war die Wohnung danach voll gestapelt mit Turnschuhen, GPS-Geräten, Wollmützen und Gesamtausgaben von Borges und Cortázar – die ich nach ihrer Abreise dem Heer von cartoneros vermachte, den Kartonsammlern, die die argentinische Hauptstadt jede Nacht für ein paar Pesos vom Papiermüll befreiten.
Abgesehen von solch seltenen Besuchern aus der alten Heimat verkehrte ich mit möglichst wenig Menschen, weil jeder neue Bekannte nach ein paar Tagen zu einem aggressiven Schenker wurde. Ich lebte immer zurückgezogener, reduzierte meine sozialen Kontakte auf das Minimum, und als mir selbst dies nicht die immer dringlicher ersehnte Ruhe garantierte – Nachbarn, Vermieter, Barkeeper können von penetranter Aufdringlichkeit sein –, kehrte ich Buenos Aires den Rücken und zog nach Patagonien.
Ich reagierte inzwischen allergisch auf das Wort „Geburtstag“, schrie jeden an, der mich beglückwünschte. Doch die Schäfer aus der Umgebung störte das keinen Deut. Tag für Tag kamen sie mit ihren Jeeps wieder, um mir Selbstgebackenes oder Selbstgeschlachtetes zu schenken, und da wurde mir klar, dass es nur einen einzigen Ausweg gab: Ich musste jegliche Gesellschaft hinter mir lassen.
Fünf Geburtstage später war ich wieder an der Küste, absolvierte mehrere Segelkurse, kaufte mir einen Einmaster und brach auf. Der Atlantik war gewiss groß genug, um spurlos zu verschwinden.

·◊·

Auf hoher See war ich dann frei. Nur wenn ich mich in irgendeinem Hafen mit Proviant versorgen musste, behelligte man mich mit Glückwünschen, aber alle zwei Monate einmal „Happy Birthday“ zu hören war gerade noch erträglich. Das Meer feierte mich nie, die Natur nahm mich kaum wahr, abgesehen von Zugvögeln, die sich gelegentlich auf meinem Mast niederließen.
Es hätte noch zehntausend Geburtstage lang so weitergehen können. Doch heute Morgen hat mich der Fluch wieder eingeholt. Bald nach Sonnenaufgang hielt ein Containerschiff auf mich zu, ein Motorboot wurde zu Wasser gelassen, darin zwei Männer, die mir mit weit ausholenden Bewegungen winkten.
Ihre Gesichter strahlten, als das Boot beidrehte.
„Was für ein wunderbarer Zufall, dass wir Sie ausgerechnet heute finden!“, rief der ältere der beiden Matrosen und schaute demonstrativ auf seine Uhr. „Genau an Ihrem vierzigsten! Man hat uns Post und Geschenke für Sie mitgegeben, ich war ja skeptisch, ob sich unsere Wege kreuzen würden, aber man sagte uns, Sie seien in diesen Gewässern unterwegs. Herzlichen Glückwunsch!“
Worauf sein Kollege mir mit jovialer Geste zuerst einen Postsack zuwarf und danach so viele Pakete, dass mein Boot am Ende gefährlich tief im Wasser lag. Nachdem sie sich verabschiedet haben, offensichtlich enttäuscht, nicht zu einem Whiskey oder Schnaps zu Ehren meines runden Geburtstages eingeladen worden zu sein, sitze ich nun wie betäubt am Ruder und betrachte die vielen Glückwunschkarten von all den Menschen, die ich jemals gekannt habe, von meiner Familie, ehemaligen Lehrern und Professoren, von Freundinnen, Sportkameraden, all den Herbergsvätern im Süden, ja sogar von dem Firmeninhaber, der mich vor zehn Jahren gefeuert hat. Ich lese jede dieser Karten und jeden dieser Briefe, hebe die Glückwünsche dann hoch und übergebe sie einzeln dem Wind. Sie flattern davon, schweben eine Weile über dem Ozean, fallen in die Fluten und treiben auf den Wellen dahin.
Das letzte Schreiben, das ich aus dem Postsack ziehe, stammt von der Krankenschwester (ihr Foto klebt statt einer Briefmarke auf dem Umschlag). „HAST DU GENUG GEFEIERT?“, steht auf dem Blatt in großen Lettern, sonst nichts. Auf der Rückseite ist mit Bleistift in klitzekleinen Buchstaben geschrieben: „Wenn ja, zieh Dich aus und spring ins Wasser. Keine Sorge, Du wirst gerettet werden.“
Das werde ich gleich tun, was habe ich schon zu verlieren? Zuvor will ich diese Geschichte aufschreiben, damit sie dokumentiert ist, falls ich doch nicht aufgefischt werde oder mich nach meiner Rettung an nichts mehr erinnern kann. So ergeht es, wenn ich mich recht entsinne, den meisten Märchenfiguren, die lange darüber nachgrübeln, was sie sich wünschen sollen.