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Richtig reisen?

„Wer sein Heimatland liebt, ist noch ein zarter Anfänger; derjenige, dem jeder Fleck Erde soviel gilt wie der, auf dem er selbst geboren wurde, hat es schon weit gebracht; reif ist aber erst der, dem die ganze Welt zu einem fremden Ort geworden ist.“ Hugo von St. Viktor, christlicher Theologe (um 1097-1141)

Noch nie zuvor sind so viele Menschen freiwillig gereist wie heute. Kaum ein Fleck der Erde ist vor unserer postmodernen Mobilität sicher. Wir überfallen wie die Heuschrecken jeden Sonnenort, wir tauchen zur Titanic, wir schweben im Heißluftballon über die Savannen, wir brechen uns einen Weg durch das ewige Eis. Kein Erdenwinkel ist vor ins sicher.

Unsere Reisen beginnen auf Landkarten und in Prospekten. Da ist die ganze Welt übersichtlich und verführerisch dargestellt, geschrumpft zu einem kleinen Maßstab. Auf jedem Quadratzentimeter Informationen über Informationen, so verdichtet, wir können gar nicht durch das Netz fallen. Die ultimative Garantie geben uns GPS-Gerät und Navigationssystem. Bevor wir aufbrechen, wissen wir schon, wie die Fremde heißt, wo sie sich erhebt und welche Ausfahrt zu ihr führt. Unsere Reise hat feste Konturen, ist schraffiert mit den Farben des Sonderangebots, des Geheimtips, der Dreisternesehenswürdigkeit. Ehe wir tief in die Fremde hineintauchen, ziehen wir einen Neoprenanzug an und laden reichlich Sauerstoff auf. Wir reisen heutzutage in jede Fremde, weil uns dort nichts mehr befremden kann.

Wenn wir ankommen, überprüfen wir, ob die Fremde den vertrauten Bildern entspricht. Oft sind wir irritiert ob einer rücksichtslosen Reisegruppe, eines aufdringlichen Straßenverkäufers, eines jeden Barock verdeckenden Gerüsts. Der Stau nervt, ebenso die kalten Füße oder der obligate Durchfall. Selbst solche Enttäuschungen entsprechen unseren Erwartungen —wir sind von Reiseführern und Internetportalen gewarnt worden. Also ziehen wir uns in jene Höhle zurück, die uns die Sicherheit der Gewohnheit bietet: den klimatisierten Bus, das renommierte Hotel, das erfrischende Schwimmbecken.

Wir fahren durch die Welt, aber wie viel erfahren wir von ihr? Fast jeder ist unterwegs, aber wer ist wirklich auf Reisen? Reisen ist keine Produktlinie des nationalen Automobilklubs, Reisen geht über die Veränderung der Lokalität hinaus — Reisen könnte ein metaphysischer Akt des Erkennens und Erfahrens sein. Nur der Reisende, hieß es einst, kennt den wahren Wert des Menschen.

In den meisten Religionen gilt das Reisen als richtige Lebensführung, als Instrument der Katharsis, als Mittel zur Erleuchtung. In dem hinduistischen Lehrbuch Aitareya Brahmana steht: „Es gibt kein Glück für den Menschen, der nicht reist. In Gesellschaft von Menschen wird auch der Beste zum Sünder … also brich auf. Des Wanderers Füße sind wie eine Blume: seine Seele wächst, erntet Früchte; seine Mühen verbrennen seine Sünden. Also brich auf! Wenn du rastest, rasten auch deine Segnungen; sie stehen auf, wenn du aufsteht, sie schlafen, wenn du schläfst, sie regen sich, wenn du dich regst. Gott ist der Freund der Reisenden. Also brich auf.“ Ähnlich den christlichen Wandermönchen von einst ziehen noch heute die indischen Asketen, Sadhus genannt, durch das Land. Die orthodoxeren unter ihnen verbringen keine zwei Nächte am selben Lagerplatz. Denn die Seßhaftigkeit trägt potentiell alle Sünden in sich, ob Gier, Egoismus, Materialismus oder Gewalt.

Aber wie könnte man in einer globalisierten Welt zum richtigen Reisen zurückfinden? Was unterscheidet unsere unergiebige Rastlosigkeit von einer Reise, bei der jener, der aufbrach, die Fremde kennenzulernen, verändert nach Hause zurückkehrt? Drei Empfehlungen, die geradezu banal wirken und doch so selten beherzigt werden: Reise ohne Gepäck, reise alleine, reise zu Fuß.

Wenn dein Gepäck in Gefahr ist, schrieb V.S. Naipaul, hast du einen Hinweis erhalten, daß du in Indien angekommen bist. Man muß sich fragen, ob nicht gerade die Gefährdung des Gepäcks eine große Chance bei jeglicher Begegnung mit der Fremde ist. Vor allem wenn man sich den Inhalt der geistigen Koffer und Taschen vor Augen führt, all jene Vorurteile und Besserwissereien, die in Gefahr gebracht werden sollen, je heftiger desto besser. Aber auch die Kleidungsstücke, die man mitschleppt, stören in der Fremde. Sie stellen alle Behauptungen auf, gegen die man sich nicht wehren kann, da man selten die Gelegenheit hat, der allgemeinen oberflächlichen Einordnung etwas Persönlicheres, Differenzierteres entgegenzuhalten. Wer lso ohne Gepäck reist, der reist ohne Sorgen und mit leichteren Vorurteilen.

Gefährlich ist das Reisen in der Gruppe. Ich erinnere mich, in Mopti am Niger stundenlang durch die Gassen zu schlendern, Flüchtigkeiten aufzusaugen, den vielen eigenartigen, gänzlich unbekannten Geräuschen zu lauschen. Da bog ich um die Ecke und geriet ohne Vorwarnung mitten in eine Reisegruppe hinein, der es aufgrund ihrer Größe schwer fiel, durch die engen Gassen zu schlüpfen. Diese Gruppe erzeugte so viel Lärm — unvermeidbar wohl: die Vielzahl der Fotoapparate, die Rufe des Führers, die erregten Stimmen —, daß die Reisenden unmöglich hören konnten, wie der Schmuck an den Ohren und Armen der Pheul-Frauen klirrte. Ich mußte an Mungo Park denken, jenen jungen Schotten, der von mehr als zweihundert Jahre alle Geheimnisse des Niger lüften wollte. Bei seiner ersten Expedition war er fast alleine, es begleiteten ihn nur ein Dolmetscher und ein Diener. Es war eine erlebnis- und erfolgreiche Reise, über die er einen aufregenden Bericht verfaßte. Bei seiner zweiten Expedition führte er dreißig britische Soldaten ins westafrikanische Inland. Von dieser Reise kehrte er nicht zurück.

Am wichtigsten ist vielleicht das Reisen zu Fuß, eine Erkenntnis, die sich erst nach ausgiebigen eigenen Erfahrungen eingestellt hat. Der Fußmarsch ermöglicht eine Wachheit, die einen wie eine Bogensehne spannt.
Man ist einer Wirklichkeit ausgesetzt, die sich mit kleinen spitzen Steinen durch die Sohlen drückt, die schwer an den Riemen des Rucksacks hängt, die sich durch schmerzende Glieder, Schweiß und Dreck bei jedem Schritt aufdrängt. Wer mit dem Auto, dem Bus, dem Zug oder dem Motorrad durch die Landschaft fährt, sieht mit den Augen, mehr oder weniger. Wer sie aber zu Fuß durchstreift, der sieht mit dem ganzen Körper. Und er ist den Einheimischen gleichgestellt, er fällt in die tradierte Kategorie des müden Wanderers, dem Menschen weltweit mit den Mitteln der vertrauten Gastfreundschaft begegnen können. Aus dem Auto heraus schaut die Fremde immer so aus, als sei sie schlecht in die eigene Sprache übersetzt.

„Unternimm eine Reise, mein Freund“, sagt der Sufi-Dichter Rumi, „vom Ich zum Selbst“. In anderen Worten: Und zu guter Letzt: Reise nicht von der Heimat in die Fremde, sondern verwandele die Fremde in Heimat.